Srebrenica: Von der Aufarbeitung zum systematischen Verdrängen?
Drei Jahrzehnte sind vergangen. Seit dem Völkermord im Juli 1995 in der kleinen ostbosnischen Enklave Srebrenica ist eine neue Generation herangewachsen. Über 8.300 Männer und Jungen wurden damals im letzten Kriegsjahr von serbischen Paramilitärs verschleppt, erschossen, ihre Leichname geschändet und in Massengräbern verscharrt.
Bis heute werden Überreste geborgen – Zeugen eines systematischen Völkermords, der zwischen 1992 und 1995 die bosnisch-muslimische Bevölkerung an den Rand der Auslöschung führte.
Mit dem Beschluss der UN-Generalversammlung, den 11. Juli zum Internationalen Gedenktag zu erklären, wurde ein längst überfälliger Schritt gesetzt. Doch bei vielen Überlebenden und Angehörigen überwiegt nicht Erleichterung, sondern die schmerzhafte Frage: Warum erst jetzt? Jetzt, wo kaum noch jemand die Kraft hat, über das Erlebte zu sprechen...
Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich sieht es als ihre Verantwortung, dieses Menschheitsverbrechen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen – nicht nur im Rahmen religiöser oder gesellschaftlicher Gedenkveranstaltungen, sondern auch durch aktive Auseinandersetzung mit den Gefahren des Vergessens und der Relativierung.
Die Last des Erinnerns – die Gefahr des Verdrängens
Neue Generationen wachsen heran, für die die Gräueltaten von Srebrenica keine eigene Lebenserfahrung mehr sind. Umso größer wird die Verantwortung der Gesellschaft, das Gedenken aktiv zu gestalten:
Gespräche mit Zeitzeug:innen
Erinnerung muss lebendig bleiben – durch persönliche Begegnungen mit jenen, die das Unvorstellbare überlebt haben. Nur das direkte Gespräch verleiht den Schrecken von damals glaubhafte Tiefe. Doch immer mehr Brüche entstehen zwischen den Generationen:
Manche Zeitzeug:innen können nicht mehr sprechen, andere wollen nicht mehr – und wieder andere sind es leid, in ihrem Schmerz nicht ernst genommen zu werden.
Erinnerung darf nicht zur Bürokratie verkommen
Erinnerungsarbeit droht, in Gerichtsakten und Konferenzprotokollen zu erstarren.
Doch wissenschaftliche Analysen allein genügen nicht. Ohne emotionale Verbindung zu den Erinnerungen der Überlebenden verstauben sie im Regal – und das bedeutet Vergessen.
Rückzug ins Private
Immer mehr Überlebende ziehen sich aus dem öffentlichen Diskurs zurück. Beim jährlichen Gedenken in der alten Heimat fühlen sie sich unter Gleichgesinnten. Doch im Ausland herrschen Zurückhaltung und die Sorge, aufzufallen. Aus persönlicher Sicht verständlich – doch für das kollektive Gedächtnis ist diese Entwicklung gefährlich.
Beschwichtigung und Relativierung
Manche wiegeln ab:„So schlimm ist es doch gar nicht mit unserer Erinnerungskultur. Haben wir nicht dank der UN viel erreicht? Leben wir nicht in ganz anderen Zeiten?“ Solche Haltungen verkennen, dass Erinnerung kein abgeschlossener Prozess ist, sondern eine bleibende Verpflichtung.
Täter-Opfer-Umkehr auf dem Vormarsch
Zweifel an der Faktenlage, Umdeutungen und politische Instrumentalisierung gefährden den historischen Konsens, und die Würde der Opfer. Relativierung ist oft nur der erste Schritt hin zur Täter-Opfer-Umkehr. Wer an die Verbrechen erinnert, wird zunehmend als Störer der Versöhnung diffamiert – als jemand, der Schuldgefühle schürt und die Gesellschaft spalte.
Rückzug der letzten Zeitzeug:innen – Gefahr des Schweigens
Mit dem Verstummen der letzten Überlebenden droht das Ende der authentischen Erinnerung. Die Spuren des Genozids könnten endgültig verwischt werden.
Gedenken als Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft
Die IGGÖ betont deutlich: Gedenken ist keine bloße Rückschau, sondern Ausdruck ethischer Verantwortung in der Gegenwart. Wer Srebrenica vergisst, öffnet der Wiederholung des Unvorstellbaren Tür und Tor.
Die Geschichte darf nicht umgeschrieben werden: sie muss wahrhaftig erinnert werden.
Die Erinnerung an Srebrenica ist nicht Teil eines nationalen Narrativs, sondern eine universelle Mahnung. Sie betrifft uns alle: als Menschen, als Glaubensgemeinschaft, als europäische Gesellschaft.
„Mögen die Tränen der Mütter zu Gebeten werden, dass sich Srebrenica nie und nirgendwo wiederholt.“
Diese Worte am Eingang des Srebrenica-Memorials verpflichten uns - zur Wahrheit, zur Wachsamkeit und zur Bewahrung der Würde der Opfer.